Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

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Sperrfrist
Fr, 09. Juni 2023, 09.30 Uhr

Fr
09.30–10.30
Bibelarbeiten am Freitag | Bibelarbeit
Bibelarbeit auf dem Weg
Was jetzt am Tage ist | 1 Mose 50,15-21
Prof. Dr. Peter Bubmann, Praktischer Theologe, Erlangen

Die Schuld der Väter

Es ist eine besondere Situation: Die Eltern rücken dem Tod näher. Oder sind gerade verstorben. Die Nachkommen treffen sich. Die Lebensgeschichte wird nochmals aufgerollt. Alte Geschichten tauchen wieder auf. Nicht immer nur angenehme. Auch die Konstellation der Geschwister ordnet sich neu. 

Ich bin vor sieben Jahren ins Land meiner Großeltern väterlicherseits gezogen, nach Westmittelfranken. Ich wusste schon aus einer ausführlichen Familienchronik, dass der Urgroßvater besonders anfällig für die nationalsozialistische Ideologie war. Und die Gegend um Neustadt/Aisch war sehr früh politisch braun und dem „Führer geweiht“. Sein Sohn, mein Großvater, war durch eine starke pietistische Prägung im CVJM in seiner Jugendzeit deutlich zurückhaltender und versuchte als Lehrer und Schulrektor in Neuendettelsau mäßigend auf die örtlichen Nazigrößen einzuwirken. Später hat er nach 1945 während der Phase der Entnazifizierung meinen Urgroßvater mit ins Lehrer- und Küsterhaus in Neuendettelsau aufgenommen. Ob sich die beiden je ausgesprochen haben über ihre Zeit im Nationalsozialismus? Darüber ist nichts bekannt. Es hätte mich interessiert, wie da zwei engagierte Christenleute über eigene Schuld gesprochen haben könnten. Aber wie hätten sie es tun sollen? Einander schlicht alles vergeben?

15 Josefs Brüdern wurde bewusst, dass ihr Vater tot war. Sie sagten: „Wenn Josef uns feindlich gesinnt ist, dann wird er uns bestimmt all das Böse heimzahlen, das wir ihm zugefügt haben.“ 
16 Da befahlen sie, Josef zu sagen: „Dein Vater hat uns auf dem Sterbebett befohlen, 17 sagt dies zu Josef: ‚Ach, vergib doch deinen Brüdern das Verbrechen und ihre Verfehlungen. Ja, sie haben dir Böses zugefügt.‘ Jetzt aber vergib doch das Verbrechen denen, die der Gottheit deines Vaters dienen.“

Die Erzvätergeschichte als politisches Dokument der Erinnerungskultur

Wir können die Josefsgeschichte und die Geschichte seines Vaters Jakob, der dann den Namen Israel erhält, als eine Familiensaga lesen. Dann kann sie durchaus mit der Fernsehserie „Dallas“ mithalten. Da stehen die Brüder Josefs nicht hinter den Ewings zurück. Die Erzvätergeschichten der Genesis sind aber nicht primär ein Kriminalroman oder religiöse Unterhaltungsliteratur, sondern verfolgen im Kontext der Redaktion der fünf Bücher Mose und der weiteren Geschichtsbücher im ersten Teil der Bibel eine politische Absicht: Sie sind Dokumente einer gezielt gesteuerten Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik.

Diese Geschichten fangen ja an in Gen 12 mit dem Aufbruch Abrahams aus seiner ursprünglichen Heimat Haran ins Land Kanaan. Und sie enden vorläufig in Gen 50 mit langen Listen der Nachfahren Jakobs und seiner Söhne. In der Gestalt von familiären Beziehungsdramen wird rückprojizierend das Verhältnis von Stämmen und Völkern der Region Kanaan und Ägyptens beschrieben. Es geht um Konflikte und um Konfliktbearbeitung. Die Grundspannung, die in diesen Erzählungen aufgemacht wird, ist die zwischen dem Leben im Segen Gottes und der Verfehlung des Willen Gottes und damit der Gefahr, den Segen Gottes zu verspielen. Die Redaktoren dieser Geschichten wollen das Ringen um den Segen auch als Konfliktgeschichte von Stämmen und Sippen nachzeichnen. Dieser verheißene und zugleich angefochtene Segen sollte für die Geschichte Israels charakteristisch werden.

Es startet mit der großen Segensverheißung an Abraham (Gen 12,2): groß und zahlreich soll sein Stamm werden. Doch schon zwischen seinen Söhnen Isaak und Ismael gibt es Zoff (erzählerisch auf ein Eifersuchtsverhältnis der beiden Mütter übertragen). Auch die Konflikte mit den Nachkommen der Nebenfrauen Abrahams werden angedeutet (Gen 25,6). Wie erreicht man Frieden unter so komplexen verwandtschaftlichen Bedingungen und bei begrenzten Lebensressourcen vor Ort? Der Frieden wird zunächst durch örtliche Trennung erreicht. Man geht auseinander, wird weggeschickt, damit die Vielzahl der Stämme nebeneinander koexistieren kann.

Auch der Bruderzwist zwischen den Söhnen Isaaks, nämlich Esau, auch Edom – der Rote genannt, und Jakob (Gen 27) handelt ja von Gebietsansprüchen und Erbschaftsrechten zwischen den Edomitern und den Stämmen Israels, also den Nachfahren Jakobs. Die Lösung dieses Konflikts wird nur durch Trennung der beiden erreicht (Gen 28). Bevor sich die beiden Brüder noch einmal begegnen können, muss Jakob am Fluss Jabbok um den Segen ringen. Er wird – wie es beschrieben wird, im Kampf möglicherweise mit Gott selbst – an der Hüfte geschlagen. Ganz ohne Verletzungen scheint es nicht abzugehen. Aber gerade durch diese Verwundung hindurch wird es möglich, dass sich die Brüder nochmals versöhnt begegnen (Gen 32/Geschenke, Gen 33 Wiederbegegnung). Es bleibt dann allerdings auch danach bei der örtlichen Trennung der familiär verbundenen Stammesgruppen.

Auch wo es um die Begegnung mit anderen Völkern und Stämmen geht, sind immer gleich Konflikte im Blick. Mal geht es um Wasser (Brunnen; z.B. Gen 26), dann um Ernten, die im Vergleich zu den Philistern in Gerar zu reichlich ausfallen. Isaak wird dort reich und wohlhabend und zieht Neid auf sich. Abimelech (König der Philister) spricht dann die Lösungsformel zu Issak aus: „Zieh von uns fort; denn du bist uns viel zu mächtig geworden.“ (Gen 26,11).

Auf die Aktualität solcher Konflikte um Wasser, um Nahrungsressourcen und Macht brauche ich nur andeutend hinweisen. Uns ist klar, dass hier nicht nur von den Stämmen Israels die Rede ist.

Immerhin taucht noch eine andere Lösungsmöglichkeit zur Lösung von Spannungen und Konflikten auf: Jakob schafft als Ziegenhirt auf dem Terrain seines Schwiegervaters Laban zu viele Tiere auf seine Seite und schreckt dabei auch vor listigen Tricks bei der Fortpflanzung von Ziegen nicht zurück. Auch hier lautet die Lösung: Trennung durch Rückkehr in die ursprüngliche Heimat. Doch kommt zusätzlich nach einigen Verwicklungen auf dem Weg noch eine andere Lösung in den Blick: Laban und Jakob schließen einen Vertrag, einen Bund, der die friedliche Koexistenz besiegeln soll (nämlich zwischen Laban und Jakob, Gen 31). Das ist ein Fingerzeig bis heute: Das Recht ist und bleibt die wichtigste Form der Konfliktregulierung zwischen Stämmen und Völkern, die in Streit miteinander geraten sind.

Die Konflikte wiederholen sich dann in der nächsten Generation. Der zweitjüngste Sohn Josef scheint durch seinen Vater Jakob bevorzugt zu sein. Er fällt aus dem Rahmen – in auffälliger Fell-Kleidung wie auch durch seine besondere Gabe der Traumdeutung. In queer-theologischer Lesart wird Josef auch als Transfrau gelesen [1]. Sein Vater lässt dem 17-jährigen ein Prinzessinnengewand machen, einen „bunten Rock“, wie es in der Einheitsübersetzung heißt. Er wird in diesem Erzählstrang klar als Außenseitergestalt gezeichnet. Und dann kommt der Teil der Geschichte, den wir alle kennen: Die Brüder Josefs wollen diesen sonderlichen Liebling des Vaters loswerden, werfen ihn zunächst in die leere Zisterne, dann verkaufen sie ihn Händlern als Sklaven und geben ihn mit nach Ägypten. Versuchter Mord und Sklaverei – nicht eben Kleinigkeiten unter familiär verbundenen Menschen. Der Rest ist bekannt: Josef steigt in Ägypten zum Berater eines Hofbeamten auf. Er erfährt Intrigen, stürzt ab, muss ins Gefängnis und findet aufgrund seiner Fähigkeit zur Traumdeutung wieder heraus, macht nun beim Hof des Pharao Karriere. Als seine Brüder wegen drohender Hungersnöte nach Ägypten kommen, könnte er sich rächen. Tut es aber nicht. Sondern holt schließlich die ganze Familie zu sich, um sie durch die schlechten Hunger-Zeiten zu führen.

Und nun stirbt sein Vater, Jakob, in Ägypten bei seiner Familie. Nach dem Tod des Vaters wäre nun erneut eine Chance auf Rache für Josef da.

Davor fürchten sich die Brüder Josefs. Der Schatten der Vergangenheit könnte nun über sie alle kommen. 

15 Josefs Brüdern wurde bewusst, dass ihr Vater tot war. Sie sagten: „Wenn Josef uns feindlich gesinnt ist, dann wird er uns bestimmt all das Böse heimzahlen, das wir ihm zugefügt haben.“

16 Da befahlen sie, Josef zu sagen: „Dein Vater hat uns auf dem Sterbebett befohlen, 17 sagt dies zu Josef: ‚Ach, vergib doch deinen Brüdern das Verbrechen und ihre Verfehlungen. Ja, sie haben dir Böses zugefügt.‘ Jetzt aber vergib doch das Verbrechen denen, die der Gottheit deines Vaters dienen.“

Das ist schon raffiniert: Es wird nicht nur die Autorität des toten Vaters aufgerufen, sondern auch noch der gemeinsame Glauben und der Gottesdienst der Familie. Wir dienen doch dem gleichen Gott – wer wollte da noch Einsprüche anmelden. Das ist schon der ultimative Choker. Und doch löst dieser Satz ein Gefühl des Unwohlseins bei mir aus. Denn dieser Appell an den gemeinsamen Gott verrät eine politische Theologie eher in einem zweifelhaften und schwierigen Sinn: Gott wird in Anspruch genommen, um die Gemeinschaft des Volkes zu schützen und für dessen Einheit einzutreten. Allzu oft wurde mit dieser Denkfigur auch Schindluder getrieben. So wurde der politische Status quo unhinterfragbar legitimiert – von Gottes Gnaden eben. Und Konflikte wurden allzu oft in einer gewaltsamen Harmonisierung überspielt. Wenn alles dem gleichen Gott dient, dann kann der Abweichler, z.B. der Gottlose oder der aus der Reihe tanzende Bruder, eben auch leicht aus dem Sozialverband ausgemerzt werden. Ist ja alles im Sinne Gottes.

Im Nationalsozialismus war die politische Religion und die diabolische Theologie, die alles legitimierte, der übersteigerte rassistische Volksgedanke und die Ausrichtung auf den einen Führer. Hitler trat an die Stelle Gottes, ganz konkret. Hier auf diesem Gelände sollte es sein. Hier war die ultimative Bühne für diesen politischen Gott geplant. Mit lebensvernichtenden Folgen für die, die nicht in diesem Volk dabei sein sollten: Juden, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende, Homosexuelle, sogenannte ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ ja und auch Religionsvertreter, etwa die Zeugen Jehovas, und christliche Theologen im Widerstand, die einem anderen Gottesbild verpflichtet waren. Für sie alle waren andere Lokalitäten als diese Kongresshalle vorgesehen: nämlich Baracken und Konzentrations- und Vernichtungslager.

In unserem Bibeltext gibt Josef nicht einfach diesem ambivalenten Appell an die höhere Macht nach. 

Es passiert vielmehr etwas Überraschendes.

18 Und Josef weinte über ihre Worte.

Für mich ist das der zentrale Satz unserer Geschichte: „Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.“ (V. 17) Er weinte wohl nicht aus Rührung, wie wir heute familienselig unterstellen könnten. Das ist ja keine TV-Soap, sondern Teil einer theologisch reflektierten Erinnerungskultur, was wir hier hören.

18 Und Josef weinte über ihre Worte.

Warum weint Josef? Wir wissen es nicht genau. Aber die Überlieferer dieser Geschichte ermöglichen uns mit diesem Satz, inne zu halten und uns in der Logik der Geschichte heilsam unterbrechen zu lassen.

Es wird also nicht einfach ein „Ja“ zur Aufforderung nach Versöhnung und Vergebung gesagt. Die Macht Gottes wird nicht ungebrochen in Anspruch genommen. Das Weinen verzögert den Fortgang der Story. Ich sehe Gott gerade in diesem Weinen am Werk. Wir weinen unter anderem, wenn eine verfahrene Situation nur mehr die körperliche Reaktion zulässt, damit wir Erleichterung finden. Und so ist das auch hier: Denn wie soll das gehen: Vergebung, angesichts solch elementarer Verstöße gegen die Menschlichkeit: versuchter Brudermord, unter den Nationalsozialisten noch schlimmer: geplanter und industriell durchgeführter Völkermord an den Juden. Wie sollten sie uns das je vergeben können? Und eine deutliche Nummer kleiner: Wie könnten wir uns je mit unseren Vorfahren versöhnen, die dieser Ideologie aufsaßen und zu Mittätern wurden wie mein Urgroßvater?

Wir brauchen Orte und Zeiten zum Weinen. Damit wir nicht vorschnell mit Aufforderungen zur Vergebung die Abgründe unserer Geschichte zukleistern. 

Das Weinen unterbricht die mögliche Rache-Kette, aber auch das vorschnelle Aufrufen von Vergebung; es schafft einen Zwischenraum, eine Verzögerung, die zu neuen Handlungsoptionen führen kann. Das Weinen muss übrigens kein lautes sein. Es kann auch ein innerliches, ja auch ein schweigendes Weinen sein. Lassen wir uns selbst an diesem Ort der Erinnerung unterbrechen, auch in unserem theologischen Nachdenken unterbrechen und einen Moment schweigen.

18 Und Josef weinte über ihre Worte.

Erinnerungskultur

Wir stehen an einem besonderen Ort der Erinnerungskultur. Die Zeitzeugen sind fast alle weggestorben, aber die Steine liegen noch da. Wir brauchen sie, um uns an den Größenwahn und die Ideologie der Nationalsozialisten zu erinnern. Hier sollte die größte Halle der Welt entstehen, allein dem Zweck gewidmet, dem Führer Adolf Hitler eine unüberbietbare imposante Auftrittsmöglichkeit beim Reichsparteitag zu ermöglichen. 

Es tut gut, dass dieser Bau des Wahnsinns heute eine Ruine ist. Und es schmerzt zugleich, dass er überhaupt entstehen konnte. Die Steine weinen für uns stellvertretend. Aber sie brauchen auch uns, die wir auf sie sehen und hören. Erinnerung wird nur produktiv, wenn sie uns auch verändert.

Immerhin: In der biblischen Geschichte merken die Brüder Josefs, dass der religiös fundierte Appell an die Versöhnungsbereitschaft des Bruders wohl doch nicht der richtige Weg war. Sie spüren wohl, dass die religiös unterfütterte Formel von der Notwendigkeit der Versöhnung nicht ausreicht. 

18b Nun gingen auch seine Brüder hin, fielen vor ihm nieder und sagten: „Hier hast du uns, als deine Sklaven.“

Diese Unterwerfungsgeste baut darauf, dass der Mächtigere nicht nachtritt. Sie bietet an, Gleiches mit Gleichem auszugleichen: Josef wurde als Sklave nach Ägypten verkauft, nun bieten sich die Brüder als Sklaven Josef an. Aber immer noch schimmert hier eine Logik des Handelns durch. „Lass uns einen Deal machen. Es ist schon richtig, wir haben Dich versklavt, aber es ist doch gut ausgegangen.“ So werfen wir uns nieder angesichts unseres Versagens und rechnen damit, dass es auch für uns gut ausgeht.

Wie hätten wir reagiert? Wie reagieren wir heute angesichts unserer Verwobenheit in eine Schuldgeschichte unserer Vorfahren? Werfen wir uns nieder?

Appellieren wir an den Gott der Vergebung und fordern selbstbewusst Versöhnung von den Opfern ein? Versuchen wir einen Geschichts-Deal, indem wir aufrechnen, was wir inzwischen alles an Gutem getan haben – für Israel, für die Demokratie, für Menschenrechte, für verfolgte Minderheiten?

Brechen wir mit diesen Fragen auf, zum Zeppelinfeld, dem zweiten Erinnerungsort auf diesem Gelände.

Der Blick aus der Ferne (Zwischenstation an der Nordseite des Großen Duzendteich)

Es ist sonderbar: Manchmal erscheinen schreckliche Dinge aus der Distanz durchaus auch interessant. Wir kennen das Phänomen der Gaffer: Solange man nicht so nahe dran ist, dass das Blut auf die eigenen Hände tropft, können Unglück und Katastrophen auch faszinieren.

Die Josefsgeschichte haben wir bereits im Kindesalter gehört, durchaus gebannt. Eine spannende Familienstory, die am Ende gut ausgeht. Krawall zwischen Geschwistern, ja sicher, immer gerne. Aber am Ende die große Versöhnung. Wie zwischen meinen Brüdern und mir. Die Narbe auf der Stirn meines kleineren Bruders, die ich ihm im Zorn im Vorschulalter mit einem Holz-Baustein beibrachte, ist allerdings immer noch zu sehen, wenn man nur genau genug hinsieht.

Der Gebrauch der Josefsgeschichte aus der zeitlichen Entfernung zu religiösen Unterhaltungszwecken oder – noch schlimmer – zur moralischen Ermahnung birgt eigene Gefahren. Harte Konflikte werden verniedlicht, Lebensbedrohung bagatellisiert, schwerste zwischenmenschliche Verfehlung zum Material eigener Erbauung instrumentalisiert. 

Ein ästhetischer Schein von Harmlosigkeit wölbt sich dann über diese abgründige Geschichte. So wie von dieser Stelle aus die wahnwitzige Kongresshalle durchaus ansprechend wirken kann. Eigentlich doch harmlos und zugleich vielleicht sogar faszinierend. 

Es ist wichtig, uns einzugestehen, dass wir mit der zeitlichen und hier auch örtlichen Entfernung kaum mehr die ganze Gewalt dieser architektonischen Ideologie erfassen können. Wir könnten uns auf die Gnade der späten Geburt berufen. Es darf nur keine billige Gnade werden. Wir dürfen die Gewaltätigkeit dieser Orte genauso wenig ästhetisieren und verdrängen wie die Gewaltätigkeit der Stammesauseinandersetzungen in der Nachkommenschaft Jakobs. Was in der Josefsgeschichte der Brunnen ist, in den Josef von seinen Brüdern gestoßen wird, sind diese Denkmale des Nationalsozialismus für uns: Mahnmale möglicher Niederträchtigkeit, die auch uns erneut befallen könnte. Orte des Vergehens gegen Menschlichkeit und Menschenrechte. Stätten, wo die Würde des Menschen eben nicht gewahrt wurde.

Gehen wir weiter zum Zeppelinfeld, dem Aufmarschfeld der Reichparteitage.

Ort der ungeschönten Erinnerung, auch der (potentiellen) Opfer

Die Versuchung ist groß, am ruinierten Ort der Täter Genugtuung zu empfinden, sozusagen die gefühlte Rache der Spätgeborenen. Hitler ist tot, Jesus aber lebt und wir Kirchentagsleute nehmen heute selbstbewusst den Platz des Führers für uns in Anspruch. Wir könnten uns ganz auf Gottes Seite fühlen, auf der Seite der Gerechtigkeit. Aber Triumphalismus ist fehl am Platz.

18 Und Josef weinte über ihre Worte. Nun gingen auch seine Brüder hin, fielen vor ihm nieder und sagten: „Hier hast du uns, als deine Sklaven.“ 19 Doch Josef sagte zu ihnen: „Habt keine Angst. Bin ich etwa an Gottes Stelle? 20 Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten, um zu tun, was sich heute zeigt: Ein großes Volk bleibt am Leben.

„Bin ich etwa an Gottes Stelle“ – dieser zweite zentrale Satz unseres Bibeltextes gibt der Geschichte eine entscheidende Wende. Josef tritt mit seinen eigenen Interessen in den Hintergrund. Egal, ob es Rachegelüste waren oder der dringliche Wunsch auf Versöhnung mit den Brüdern. Beides muss zurückstehen hinter dem Plan, den Gott für alle zusammen vorgesehen hat. Das ist Gottes große Umrechnung.

Doch auch dieser Hinweis auf Gottes Heilswillen erfährt nochmals eine Verzögerung. Und die ist wichtig.

20 Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten.

Das Böse wird nicht einfach unter den Tisch gekehrt. Josef hält fest: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen“. Gottes Umrechnung zum Guten erfordert zunächst die explizite Benennung des Bösen. „Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan.“ „Ihr habt uns wissentlich und mit Vorsatz in die Shoah getrieben.“ Das sind harte Sätze. Aber es gibt keine Versöhnung ohne die ehrliche und unbequeme Wahrnehmung der bösen Tat. Und deshalb braucht es Erinnerungsorte wie diesen, wo deutlich bleiben muss, dass von hier aus abgrundtief Böses ausging.

Es ist wichtig, dass die Opfer von damals eine Stimme erhalten, auch in diesen Dokumenten der Erinnerungskultur. Deshalb ist auch in besonderer Weise auf die Stimmen der Juden zu hören, wenn es um die zukünftige Verwendung dieses Terrains geht. Sie waren und sind weiterhin das primäre Opfer des Nationalsozialismus. Es ist ein ermutigendes Zeichen, wenn morgen am Ort der zerstörten Hauptsynagoge vor dem Hauptbahnhof endlich wieder ein jüdischer Gottesdienst gefeiert wird.

Daneben sind auch die anderen Opfergruppen nicht zu vergessen. Erstmals wurden beim Holocaust-Gedenken im Bundestag am 27.1.2023 Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

„Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte, es dürfe kein Ende des Erinnerns an alle Opfer geben, die von den Nationalsozialisten verfolgt, bedroht, entrechtet und ermordet wurden. Wenn die Zeitzeugen nun nach und nach sterben, müssten andere ihre Geschichte erzählen. ‚Die Opfer des Holocaust bleiben unvergessen.‘“ [2]

Mir hat eine künstlerische Installation, über die in der regionalen Presse ausführlich berichtet wurde, zu denken gegeben: Hier hinter uns wurden Anfang November 2020 die senkrechten säulenartigen Streben in den Farben der Regenbogenfarbe besprüht. Die Künstlergruppe nannte es "Regenbogen-Präludium" (ich habe ein Bild auf das Liedblatt kopieren lassen). Das Hochbauamt ließ das Kunstwerk bereits nach einem Tag wieder entfernen. Darum entbrannte dann ein Streit in der veröffentlichten Meinung.

„Mit dem Symbol der LGBTI-Bewegung im Hintergrund habe man u.a. verhindern wollen, dass Neonazis Selfies auf der ‚Führerkanzel‘ machen“, begründete das anonyme Künstler*innen-Kollektiv die […] Aktion. Verwendet habe man unschädliche Wasserfarben.

„‚Das Regenbogen-Präludium‘ verstehe sich zudem als Beitrag zur Debatte, wie mit dem Reichsparteitagsgelände weiter zu verfahren sei, heißt es in [der damaligen; P.B.] einer Pressemiteilung. ‚Wir sind die letzte Generation, die mit Zeitzeugen des Holocaust sprechen kann. Wir sind Kinder, Enkel und Urenkel dieser Zeugen eines schwer vorstellbaren Verbrechens gegen die Menschlichkeit‘, so die Künstler*innen. ‚Wenn wir vergessen, wiederholt sich die Geschichte.‘“ [3]

Einen Weg in eine versöhnte Zukunft kann es also nur geben, wenn wir uns ehrlich der Schuld der Vergangenheit stellen.

Ich stehe heute als schwuler Mann auf dem Podest, auf dem Adolf Hitler seine Ideologien verkündet hat. Sein Wahnsinn und der seiner Gefolgsleute hat vor allem unzähligen Juden, aber eben auch Sinti und Roma, Homosexuellen, Sozialisten und anderen Menschen das Leben gekostet. Ich hätte Opfer werden können und gehöre zugleich den Nachfahren der Täter an.

Erst 2023 hat die Bundesregierung einmal ausdrücklich auch der Gruppe der ermordeten Homosexuellen gedacht. Manche Landeskirchen wie die EKHN legen gerade Schuldbekenntnisse ab hinsichtlich ihres Umgangs mit dieser Gruppe in den letzten Jahrzehnten. Das ist wichtig, aber es reicht nicht und ist für die Betroffenen kein Anlass für Genugtuung. Ich verstehe es eher im Sinne des Weinens des Josef als notwendiges Innehalten, um dann neue Perspektiven für ein segensreicheres gemeinsames Zusammenleben zu gewinnen. 

Und so ordne ich auch die heutige Bibelarbeit auf diesem Reichsparteitagsgelände ein. Es ist nicht ein später Sieg über die nationalsozialistische Ideologie, keine machtvolle christliche Besetzung der Hitler-Kanzel durch die Sieger der Geschichte. 

Es ist wie in der Josefsgeschichte eher eine Erinnerung daran, dass wir alle dem Heilswillen Gottes nicht im Wege stehen sollten. Und dass wir für einen Weg der Versöhnung die Aufarbeitung der Vergangenheit benötigen.

Stehe ich an Gottes statt? Hitler wollte hier auf diesem Feld erkennbar an Gottes statt stehen und den letzten Herrscher und Richter über alle Menschen spielen.

Dass dieses Feld nun ein Trümmerfeld, eine Ruine ist, ist daher ein Hoffnungszeichen. Dass die Juden nicht ausgerottet werden konnten, bleibt ein Hinweis. Der bleibt aber ambivalent. Wir können nicht einfach vollmundig das Überleben der Shoah und die Gründung des Staates Israels als indirektes Wirken Gottes deuten. Das könnte auch zynisch gegenüber den Opfern wirken. 

Wir können aber gemeinsam mit unseren jüdischen Geschwistern die Sehnsucht nach einem Gott kultivieren, der „es gut zu machen (gedachte)“ (V. 20). Dieser Gott nimmt Juden wie Christen und alle Menschen guten Willens in seinen Dienst: Wir sollen und können aufstehen gegen das Unrecht und selbst niederknien, wo wir schuldig geworden sind. Wir sollen und können den Opfern begegnen und sie zum Leben stärken.

Der Segen Gottes: Die (immer neu verheißene) Wende zum Guten

19 Doch Josef sagte zu ihnen: „Habt keine Angst. Bin ich etwa an Gottes Stelle? 20 Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten, um zu tun, was sich heute zeigt: Ein großes Volk bleibt am Leben. 21 Jetzt aber habt keine Angst, ich selbst versorge euch und eure Kinder.“ So tröstete er sie und redete ihnen zu Herzen.

Die Erzväter-Erzählungen und die Josefsgeschichte wollen zeigen, dass der Segen Gottes nicht zu zerstören ist. Selbst nicht durch das abgrundtief Böse. Immer wieder taucht der Segenszuspruch Gottes auf: mitten in den teils ja wüsten Geschichten um familiäre Zwistigkeiten, Betrug am Bruder und Kampf um materielle Ressourcen.

Ich erinnere an die Himmelsleiter-Vision des Jakob (Gen 28,10-22), in der er eine universale Segensverheißung erhält: „Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. (…) durch dich und deine Nachkommen werden alle Sippen der Erde Segen erlangen“ (V. 14) (dieser Segen wird dann Gen 35,9 nochmals im Traum bei Bet-El erneuert). Später liegt der Segen auf Josef in Ägypten und lässt ihm alles gelingen (Gen 39,5). Durch ihn wirkt – wie später der Pharao angibt – der „Geist Gottes“ (Gen 41,38). 

Die zentrale „Umrechenaktion“ Gottes besteht darin, mitten in der Welt des Unfriedens immer wieder Erfahrungsräume seines Segens zu eröffnen. Selbst hier auf diesem Terrain des Wahnsinns und des Bösen. Deshalb macht es gerade auf diesem Feld und auf dieser Tribüne Sinn, um Gottes Segen zu bitten, für Frieden, für Gerechtigkeit und die Bewahrung unserer natürlichen Lebenswelt.

„Du segnest, dass wir als dein Volk der Zeit ein Segen sind.“ So lautet ein Strophenbeginn des Liedes, das wir nun als Abschluss dieser Bibelarbeit singen. Es endet mit dem großen Versorgungszuspruch Gottes, der uns aufbrechen lässt für eine Zukunft in Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. „Wir legen dafür Hand in Hand, weil deine Hand uns hält.“

[1] Vgl. exemplarisch Klaus-Peter Lüdke, Queer mit Gott. Bibel und Glaube unter dem Regenbogen, Göppingen 2021, 17-41.

[2] Meldung Tagesschau vom 27.01.2023. 

[3] Meldung „Kein Regenbogen über der Führerkanzel‘“ auf www.queer.de vom 02.11.2020. 


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